Connectomics: Netzwerkkarten des Säugetiergehirns

Forschungsbericht (importiert) 2014 - Max-Planck-Institut für Hirnforschung

Autoren
Helmstaedter, Moritz
Abteilungen
Connectomics
Zusammenfassung

Das komplexe Kommunikationsnetzwerk der Nervenzellen im Gehirn, das Connectom, ist notwendige Grundlage der beeindruckenden Gehirnleistungen. In den letzten Jahren ist es gelungen, Teile des Connectoms im Säugetiergehirn zu vermessen: Die MPG-Forscher Winfried Denk und Moritz Helmstaedter kartierten das lokale Connectom der Mausnetzhaut. In der 2014 installierten Abteilung "Connectomics" arbeitet Helmstaedter an der Netzwerkvermessung in der Hirnrinde, um herauszufinden, wie durch Kombination von Erfahrung und neuen sensorischen Reizen Objekte in der Umwelt erkannt und benannt werden.

Im menschlichen Gehirn kommunizieren 85 Milliarden Nervenzellen mit jeweils rund eintausend anderen Nervenzellen. Das ergibt ein schier unfassbar komplexes Netzwerk. Die Struktur dieses interzellulären Netzwerks zu kartieren ist ein wichtiges Ziel und eine wesentliche Herausforderung der Neurowissenschaften [1; 2].

Hierfür müssen zunächst Synapsen – die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen – identifiziert werden, um dann die zwei beteiligten prä- und postsynaptischen Nervenzellfortsätze bis zu ihrem Ursprung, zumeist dem Zellkörper, zurückzuverfolgen (Abb. 1a). Diese Aufgabe ist dadurch erheblich erschwert, dass Nervengewebe in fast allen Strukturen, jedenfalls im Zentralnervensystem, aus einer extrem dichten Packung von Nervenzellfortsätzen besteht. Das Gewebe ist so dicht, dass die Darstellung des gesamten lokalen Netzwerks in einem größeren Stück Nervengewebe mit konventioneller Lichtmikroskopie unmöglich ist (Abb. 1b).


Um solche Nervenzellnetzwerke dicht zu rekonstruieren, das heißt in einem gegebenen Volumen einen Großteil der Nervenzellfortsätze und ihrer synaptischen Verschaltungen zu kartieren, standen der Neurowissenschaft lange Zeit keine geeigneten Methoden zur Verfügung. Nervenzellfortsätze können sehr schmal werden, bis zu wenigen Dutzend Nanometern Durchmesser – und Nervenzellen erstrecken sich typischerweise über hunderte Mikrometer oder gar mehrere Millimeter. Damit ergibt sich eine räumliche Skala, die hohe Auflösung über große Distanzen verlangt. Während Elektronenmikroskope die benötigte Auflösung liefern, war die Darstellung der benötigten Volumina nur mit erheblichem Aufwand möglich: Bislang bedeutete dies, tausende ultradünne Gewebeschnitte zunächst manuell anzufertigen, in das Elektronenmikroskop zu transferieren, dort einzeln abzubilden, und dann zu einem Bildvolumen zusammenzufügen. Lediglich für einen kompletten Schaltkreis wurde diese Aufgabe erfolgreich durchgeführt: Die Rekonstruktion des C. Elegans–Konnektoms beschrieb die Verschaltung von 302 Nervenzellen und für seine Erstellung benötigten die Wissenschaftler 15 Jahre [3].

In Anbetracht dieser methodischen Grenzen war die Entwicklung automatisierter Volumen-Elektronenmikroskopietechniken im vergangenen Jahrzehnt ein erheblicher Durchbruch für die Analyse neuronaler Schaltkreise. Bei der Seriellen Block-Rasterelektronenmikroskopie (SBEM) [4], Abb. 1c) wird der Gewebeblock ungeschnitten in die Vakuumkammer des Elektronenmikroskops eingebracht. In der Vakuumkammer ist ein Diamantmesser-Ultramikrotom installiert, welches automatisch die Oberfläche des Gewebeblocks abschneiden kann. Es wird nun zunächst die Oberfläche des Gewebeblocks mit Rasterelektronenmikroskopie abgebildet und dann die bereits dargestellte Oberfläche abgeschabt. Damit entfällt die Notwendigkeit, ultradünne Gewebeschnitte in das EM einzubringen. Stattdessen ergeben Dauerexperimente, welche Tag und Nacht über mehrere Monate laufen, weitgehend isotrope, das heißt in alle Raumrichtungen ähnlich gut aufgelöste, und hinreichend große Volumendatensätze.

Datenrekonstruktion


Für die Vermessung von Nervenzellnetzwerken ist die Bildaufnahme aber nur der erste Schritt. Im nächsten Schritt müssen die Nervenzell"kabel" verfolgt und aus dem Grauwert-Bildvolumen das Nervenzellnetzwerk extrahiert werden. Hierfür war es ein wesentlicher Fortschritt, mit effizienter Software die manuelle Annotation zu erleichtern. Eine Google-maps-artige Dateninteraktion (KNOSSOS) [5] erbrachte eine bis zu 50-fache Steigerung der Rekonstruktionseffizienz. Damit konnten die Studenten über große Distanzen die Nervenzellkabel in 3D verfolgen, ohne sich mit den Details des lokalen Aussehens dieser Nervenzellfortsätze aufzuhalten.

Natürlich werden für die Datenrekonstruktion auch direkt automatische Bildverarbeitungsansätze verfolgt. Es zeigte sich jedoch bald, dass die Volumen-EM-Daten des Nervengewebes besonders schwierig zu rekonstruieren sind. Automatische Algorithmen sind bis heute mehrere Größenordnungen fehleranfälliger als menschliche Annotatoren [1]. Daher verfolgen die heute verwendeten Rekonstruktionsansätze zumeist eine Kombination aus langreichweitiger manueller und lokaler automatischer Analyse [6].

Um die massiven Bilddaten erfolgreich zu rekonstruieren, muss also eine große Zahl von Annotatoren zum Einsatz kommen. Für die Rekonstruktion von Schaltkreisen in der Retina waren mehr als zweihundert Studenten an den Max-Planck-Instituten in Heidelberg und München tätig (Abb. 2c).

Das erste Säugetier-Connectom

Dank der methodischen Fortschritte gelang es den Max-Planck-Forschern, erstmalig einen substanziellen (im Vergleich zum gesamten Gehirn aber immer noch sehr kleinen) Teil eines Säugetiergehirns zu rekonstruieren: die Verschaltungen von rund 1000 Nervenzellen in der Netzhaut der Maus [7]. Mehr als 200 Studentinnen und Studenten waren an der Rekonstruktion beteiligt, mehr als 20000 Arbeitsstunden wurden geleistet, um zusammen mit Computeranalyse die Nervenzellen zu rekonstruieren (Abb. 2, im Vordergrund ist der rekonstruierte Gewebeblock gezeigt). Im nächsten Schritt wurden die Kontaktstellen der halben Million Nervenzellpaare untersucht und 200.000 wahrscheinliche synaptische Kontakte gefunden. Diese Verbindungskarte lässt sich effizient als sogenannte Nachbarschaftskarte (Adjazenzmatrix) darstellen (Abb. 2 im Hintergrund).


Aus dieser wurden dann vorher unbekannte Nervenzellschaltkreise extrahiert, die bekannte Eigenschaften von Ganglienzellen der Retina erklären können. Zur Überraschung der Forscher wurde eine vorher in diesem Schaltkreis unbekannte weitere Zellart gefunden (die „XBC“-Bipolarzelle), welche möglicherweise an der Helligkeitsregulation beteiligt ist – und ihre Schaltkreise wurden identifiziert. Dieser erhebliche Datensatz, online verfügbar, birgt noch zahlreiche weitere Schaltkreisinformationen, die in Analysen weltweiter Forschungsgruppen erarbeitet werden.

Die lokal dichte Schaltkreisrekonstruktion ergab zudem ein viel realistischeres Abbild der hohen Packungsdichte von Nervenzellnetzwerken (Abb. 3). Um die hohe Nervenzellkonnektivität im Gehirn zu erreichen, müssen die Nervenzellfortsätze extrem komprimiert gepackt sein. Dieses Netzwerk zu entwirren, stellt noch erhebliche Herausforderungen an die Wissenschaft.

Connectomics der Hirnrinde

Die am MPI für Hirnforschung im August 2014 neu installierte Abteilung Connectomics hat es sich nun zum Ziel gesetzt, die Methoden der Netzwerkkartierung so weit voranzutreiben, dass die Kartierung neuronaler Netzwerke in der Hirnrinde (dem cerebralen Cortex) zu einer Routine-Screening-Methode werden kann. Damit sollen die Verschaltungsprinzipien in den sensorischen Cortices untersucht werden.

Das Säugetiergehirn hat auf bisher unverstandene Weise die Mustererkennung in sehr komplizierten sensorischen Daten umgesetzt (zum Beispiel gibt es eine sehr leistungsfähige Bilderkennung) – eine Fähigkeit, der selbst modernste Maschinenlernverfahren noch nicht nachkommen. Durch den systematischen Vergleich der Connectome verschiedener Individuen, kortikaler Module und Tier-Spezies soll erforscht werden, nach welchen algorithmischen Methoden das Säugetiergehirn dieses Problem gelöst hat. In einem parallelen Forschungsvorhaben werden die Forscher die Connectome pathologischer Tiermodelle untersuchen, um herauszufinden, welche Schaltkreisveränderungen bei psychiatrischen Erkrankungen auftreten können.

All diese Ziele können nur mit einem weiten Forschungshorizont verfolgt werden. Sie erfordern erheblichen Einsatz an Mikroskopen, rechnergestützter Analyse und – in besonderer Weise – umfangreicher Datenanalyse durch viele Menschen. Um auch hundert- und tausendfach komplexere Netzwerke rekonstruieren zu können als im Fall der Retina (Abb. 2), entwickelt die Abteilung Connectomics mobile Computerspiele, die für Laien intuitiv die Rekonstruktion von Hirnnetzwerken ermöglichen.

Mit ungewöhnlichen Mitteln soll so erreicht werden, dass die routinemäßige Kartierung von Nervenzellnetzwerken als screening tool der Erforschung von Grundlagen und Erkrankungen des Gehirns zur Verfügung steht.

Literaturhinweise

1.
Helmstaedter, M.
Cellular-resolution connectomics: challenges of dense neural circuit reconstruction
Nature Methods 10, 501-507 (2013)
2.
Denk, W.; Briggman, K. L.; Helmstaedter, M.
Structural Neurobiology: Missing link to a mechanistic understanding of neural computation
Nature Reviews Neuroscience 13, 351-358 (2012)
3.
White, J. G.; Southgate, E.; Thomson, J. N.; Brenner, S.
The Structure of the Nervous System of the Nematode Caenorhabditis elegans
Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences 314, 1-340 (1986)
4.
Denk, W.; Horstmann, H.
Serial block-face scanning electron microscopy to reconstruct three-dimensional tissue nanostructure
PLoS Biology 2(11), e329 (2004)
5.
Helmstaedter, M.; Briggman, K. L.; Denk, W.
High-accuracy neurite reconstruction for high-throughput neuroanatomy
Nature Neuroscience 14, 1081-1088 (2011)
6.
Helmstaedter, M.; Mitra, P. P.
Computational methods and challenges for large-scale circuit mapping
Current Opinion in Neurobiology 22(1), 162-169 (2012)
7.
Helmstaedter, M.; Briggman, K. L.; Turaga, S.; Jain, V.; Seung, H. S.; Denk, W.
Connectomic reconstruction of the inner plexiform layer in the mouse retina
Nature 500, 168-174 (2013)
8.
Helmstaedter, M.; Briggman, K. L.; Denk, W.
3D structural imaging of the brain with photons and electrons
Current Opinion in Neurobiology 18, 633-641 (2008)



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