Dem Gedächtnis auf der molekularen Spur – wie man Lernen sichtbar macht
Forschungsbericht (importiert) 2012 - Max-Planck-Institut für Hirnforschung
Als ein Grundmechanismus von Lernen und Gedächtnis gilt, dass einzelne Kommunikationsstellen einer Nervenzelle unabhängig von den benachbarten Stellen verändert werden können. Eine einleuchtende Erklärung, wie ein Neuron das bewerkstelligt, fand man mit dem Nachweis, dass manche Proteine direkt in der Nähe dieser Kontaktstellen erzeugt werden können. Wissenschaftler am MPI für Hirnforschung konnten zeigen, dass die Vielfalt der in Neuronen-Ausläufern lokalisierten Proteinbaupläne wesentlich höher ist als bisher angenommen – ein dramatischer Wandel des Bildes von der neuronalen Welt.
Einleitung
Unser Gehirn leistet jeden Tag Erstaunliches: Informationen werden verarbeitet, verknüpft und gelernt, Erinnerungen werden abgespeichert und abgerufen. Dafür muss das Gehirn plastisch und veränderbar sein, gleichzeitig aber auch in der Lage, Informationen für lange Zeit stabil zu bewahren.
Die Grundeinheiten für diese Leistung sind die Nervenzellen (Neuronen) – polarisierte Zellen, die außer dem Zellkörper lange Fortsätze zum Senden (Axon) und Empfangen (Dendriten) von Signalen haben (Abb. 1).
Zelluläre Grundlagen von Lernen und Gedächtnis

Abb. 1: Organisation einer Nervenzelle: Neuronen haben im Gegensatz zu anderen Zellen lange Ausläufer – (Axon, Dendriten). Dendriten haben Tausende von Eingangsstellen für Informationen von Axonen anderer Neurone. Diese Kontaktstellen nennt man Synapsen. Lokale Prozesse wie der Auf- und Abbau von Proteinen in der Nähe von Synapsen können erklären, wie einzelne Synapsen unabhängig von den anderen ihre Übertragungsstärke ändern können. Früher nahm man an, dass Proteinsynthese allein eine Aufgabe des Zellkörpers nahe des Zellkerns ist, da mRNAs – die Baupläne für Proteine – im Zellkern hergestellt werden.
Die unterste Ebene, auf der Vorgänge ähnlich zu Lernen und Gedächtnisspeicherung nachgewiesen wurden, sind die Kontakt- und Kommunikationspunkte zwischen Axonen und Dendriten verschiedener Neuronen, die sogenannten Synapsen. Sie variieren in ihrer Anzahl, Größe und Stärke der Signal-Übertragung. Ein Neuron hat Tausende von Synapsen, über die es Signale von anderen Neuronen erhält. Die Fähigkeit von Synapsen, sich während der Lebenszeit eines Menschen oder Tieres zu verändern, trägt zu seiner Fähigkeit bei zu lernen und sich zu erinnern.
Das Team um Erin Schuman am MPI für Hirnforschung interessiert sich dafür, wie Synapsen auf molekularer Ebene modifiziert werden und wie sich neuronale Schaltkreise ändern, wenn Synapsen ihre Eigenschaften ändern. Wie schafft es eine Nervenzelle, spezifische Kontakte zu verändern, während andere unverändert bleiben? Wie werden Proteine an Bestimmungsorte gebracht, obwohl eine Nervenzelle so ausgedehnt und spezialisiert ist?
Eine einleuchtende Erklärung, wie ein Neuron diese Veränderungen an einer spezifischen Stelle zu einer bestimmten Zeit bewerkstelligen kann, fand man mit dem Nachweis, dass neue Proteine auf spezielle Aktivitätssignale hin lokal in der Nähe der Synapsen erzeugt werden können. Man fand die zelleigene Maschinerie für den Auf- und Abbau von Proteinen nicht nur im Zellkörper, sondern auch in den Dendriten [1], Abbildung 1. Es ist gut untersucht, dass Protein-Neusynthese für die Langzeit-Gedächtnisspeicherung benötigt wird. Normalerweise werden Proteine anhand einer im Zellkörper vorhandenen Bauanleitung, der mRNA, erzeugt und dann in der Zelle verteilt. Für einige aktivitätsrelevante Proteine wurden in den letzten Jahren mRNAs auch in der Nähe von Synapsen nachgewiesen – man hielt dies für eine Ausnahme, die die lokale Produktion weniger ausgewählter Proteine ermöglicht. Forscher am MPI für Hirnforschung konnten nun mit einer Kombination von hochauflösenden und sensitiven Methoden zeigen, dass die Diversität der in Neuronen-Ausläufern lokalisierten mRNAs um mindestens eine Größenordnung höher ist als bisher angenommen [2]. Dies legt nahe, dass lokale Proteinsynthese ein weit wichtigeres Phänomen für den Normalbetrieb einer Nervenzelle ist, als man sich bisher vorstellen konnte.
Die Identifizierung der mRNA-Vielfalt in Neuronen-Ausläufern

Abb. 2: Die Strategie zum Isolieren von Neuronen-Ausläufern: Im Hippocampus befinden sich Zellkörper und Ausläufer der wichtigsten Nervenzellen in verschiedenen Schichten. Aus einer Hippocampus-Region, wo man bereits viel über Plastizität bei Synapsen weiß, kann man unter dem Mikroskop mit winzigen Klingen die Zellkörper (rot umrandet) von den Neuronen-Ausläufern (blau umrandet) trennen. Aus den Minischnitten kann man mit molekularen Methoden neu hergestellte Proteine oder deren Bauanleitungen aus Ausläufern isolieren.
Im Hippocampus, einer Gehirnstruktur, die bei Mensch und Tier an Lernvorgängen beteiligt ist, liegen Zellkörper und Dendriten in verschiedenen Schichten. Trennt man die Schichten in mühsamer Kleinarbeit per Hand unter dem Mikroskop (Abb. 2), kann man mRNAs aus Zellkörpern und Zellausläufern getrennt isolieren. Deep sequencing ergab eine unerwartet hohe Zahl an verschiedenen mRNAs in den Ausläufern. Mehr als 2500 verschiedene Bauanleitungen befanden sich dort, wo man nur eine kleine Auswahl erwartet hatte. Mit einer Barcode-Strategie namens Nanostring, bei der einzelne mRNA-Moleküle mittels künstlicher Sonden mit Barcodes aus mehreren Fluoreszenzfarbstoffen markiert und gezählt werden (Abb. 3), wurde die Identität der mRNAs überprüft und Information über die jeweilige Menge gewonnen. Die Mengen der verschiedenen Bauanleitungen variierten um mehrere Größenordnungen (Abb. 3). Die bisher bekannten Bauanleitungen gehörten zu den am häufigsten vorkommenden – bis jetzt hatte man offensichtlich nur die Spitze des Eisbergs gesehen. Plötzlich sieht es so aus, als ob nicht nur wenige Schlüsselproteine, sondern ganze Netzwerke oder Gruppen von Proteinen an Ort und Stelle erzeugt werden können.

Abb. 3: Charakterisierung von mRNAs aus Neuronen-Ausläufern: Zum Zählen, wie viele Exemplare einer bestimmten mRNA in den Neuronen-Ausläufern sind, wurden für über 200 Kandidaten fluoreszierende Barcode-Marker hergestellt, die man mit Mikroskopietechniken gleichzeitig zählen kann (links). Die Mengen für einzelne mRNAs variieren über Größenordnungen. Beispiele, die bisher bekannt waren (z.B. CamK2a, Dlg4, Map1a) gehören zu den häufigsten (rechts). Mit einer hochsensitiven FISH-Methode kann man die mRNA-Moleküle in den Ausläufern von Neuronen direkt nachweisen (unten). Die Umrisse der Nervenzelle sind in schwarz, die mRNAs – hier die Bauanleitung für das Protein Shank1 – in rot dargestellt.
Um ganz sicherzugehen, dass die neu gefundenen mRNAs nicht doch aus vereinzelten Zellkörpern in der Ausläuferschicht kamen, wurden die mRNAs mit einer hochauflösenden FISH-Methode direkt in der Zelle sichtbar gemacht (Abb. 3). Tatsächlich waren in den Ausläufern der Nervenzellen die mRNA-Kandidaten zu sehen, die über Sequenzierung gefunden worden waren – aufgrund der Sensitivität der Methode auch die, die in geringerer Anzahl vorkommen.
Kann man Lernen sichtbar machen?
Diese Entdeckung zieht allerdings gleich weitere Fragen nach sich: Welche dieser Bauanleitungen werden tatsächlich benutzt und wann? Wo werden beim Lernen oder bei Vorgängen der Plastizität und auch unter Normalbedingungen Proteine neu hergestellt?
Auch für die Beantwortung dieser Fragen wurden im Schuman-Labor neue Techniken entwickelt. Um neu hergestellte Proteine von den bereits vorhandenen zu unterscheiden, bietet man kurzzeitig markierte Proteinbausteine an. Bisher machte man dies mit radioaktiv markierten Aminosäuren oder mit anderen Isotop-Markierungen. Der Vorteil war, dass die Proteinbausteine biologisch identisch waren, man die neu hergestellten Proteine aber (physikalisch) erkennen konnte. Aufgrund der biologischen Identität konnte man sie allerdings nicht mit biochemischen Methoden trennen oder sichtbar machen. Der Trick der neuen Methoden BONCAT und FUNCAT besteht nun darin, künstliche Proteinbausteine anzubieten. Die künstliche Aminosäure AHA ähnelt einer natürlichen – die Zelle merkt den Unterschied kaum und baut AHA statt Methionin in Proteine ein. AHA besitzt zusätzlich eine kleine, biologisch unauffällige Molekülgruppe als Anker, den man später mittels Click-Chemie nach einer Art Lego-Prinzip chemisch verändern kann (Abb. 4). Beispielsweise lässt sich daran ein Marker clicken, mit dem man diese Proteine gezielt aufreinigen und dann identifizieren kann [3]. Alternativ kann man einen Fluoreszenz-Farbstoff daran clicken, der dafür sorgt, dass man das neu synthetisierte Protein zum Leuchten bringen und damit sehen kann [4, 5], (Abb. 4). Es gelang bereits der Nachweis, dass man mit dieser Methode sogar neue Proteine in einem lebenden Tier markieren kann – nämlich in Zebrafischlarven [5, 6]. Damit steht ein spannender Weg offen, in Zukunft tatsächlich Proteinsynthese bei Lernvorgängen beobachten zu können.

Abb. 4: Die FUNCAT-Strategie, um neu hergestellte Proteine sichtbar zu machen (oben). Das Verfahren funktioniert nicht nur in einfachen Zelllinien (links), sondern auch in verzweigten Nervenzellen (Mitte) und sogar in einem ganzen Organismus wie einer Zebrafisch-Larve (rechts). Die neu hergestellten Proteine wurden mit einem rot leuchtenden Fluoreszenzfarbstoff sichtbar gemacht.
Wann und wo werden die Bauanleitungen tatsächlich benutzt?
Bisher nähert man sich der Frage, wann und wo die bei den Synapsen synthetisierten mRNAs tatsächlich benutzt werden, noch mit Modellsystemen. Aber die Methode funktioniert und bringt wichtige Erkenntnisse zu Prinzipien.
Ein erstes Ergebnis von plastizitätsrelevanten Proteinen in Dendriten wurde mit einer ähnlichen Strategie gewonnen wie bei der Identifizierung der Bauplan-Vielfalt: Vom Hippocampus wurde wieder die Ausläuferregion isoliert (Abb. 2). Diese Minischnitte behandelte man mit einer Substanz, die chemisch Plastizität beeinflusst, während sie für 2,5 Stunden die künstliche Aminosäure AHA erhielten. Hinterher wurden die neu synthetisierten Proteine von den bereits vorher vorhandenen getrennt und mittels Massenspektrometrie identifiziert [7]. Für rund 300 verschiedene Proteine lässt sich mit großer Sicherheit sagen, dass sie tatsächlich in Dendriten und nicht im Zellkörper neu gemacht wurden, 30 davon ausschließlich unter den Bedingungen, bei denen die Behandlung vorausging. Erstaunlicherweise handelt es sich hierbei neben Synapsen-spezifischen Proteinen um solche, die man braucht, um die Proteinsynthese-Maschinerie selbst zu bauen. Ein schlaues Prinzip der Nervenzelle – unter Plastizitätsbedingungen zunächst dafür zu sorgen, dass die Kapazität für Proteinsynthese erhöht wird.