Eintunen auf die Dynamik kortikaler Schaltkreise
Wie Neurone aus Erfahrungen schöpfen
Im Gehirn werden neuronale Schaltkreise ständig plastisch modifiziert, um Informationen zu speichern und sich schnell an Veränderungen in der Umwelt anzupassen. Dies stellt eine grundlegende Herausforderung dar: Trotz der ständigen Veränderung der Konnektivität zwischen Neuronen, zum Beispiel beim Lernen, treiben neuronale Schaltkreise das Entstehen robuster Verhaltensweisen an. So können diese weiterhin mit bemerkenswerter Präzision ausgeführt werden, z.B. das Radfahren. In einer neuen, in PNAS veröffentlichten Studie beleuchtet ein internationales Wissenschaftlerteam unter der Leitung von Julijana Gjorgjieva, Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt, jene Mechanismen, die Neuronen zur Aufrechterhaltung dieser Stabilität nutzen.
Um das Gleichgewicht zwischen Stabilität und Flexibilität aufrechtzuerhalten, verwenden neuronale Schaltkreise zwei Arten von Mechanismen, die die Konnektivität modifizieren. Einerseits sind dies die von Donald Hebb geprägten Hebb'schen Mechanismen, die die gleichzeitige Aktivierung prä- und postsynaptischer Neuronen im Schaltkreis erfordern. Diese Arten von Mechanismen sind besonders gut geeignet, jede beliebige Struktur im sensorischen Input, z.B. natürliche Bilder beim Sehen, aufzunehmen und in sinnvolle Verbindungen zwischen Neuronen zu übersetzen. Andererseits sind es homöostatische Mechanismen, die die gesamte Konnektivität und Erregbarkeit der Neuronen anpassen, um die Aktivität der Schaltkreise zu regulieren und sicherzustellen, dass sie nicht explodieren oder komplett ausfallen.
"Wir wollten verstehen, wie diese beiden Mechanismen die normale Aktivität in neuronalen Schaltkreisen im primären visuellen Kortex, einem zentralen Hirnareal für die Verarbeitung visueller Informationen, nach einer Unterbrechung der normalen Seherfahrung wiederherstellen", erklärt Gjorgjieva.
Die Wissenschaftler:innen analysierten die neuronale Aktivität aus dem visuellen Kortex von Ratten nach dem sogenannten ‚monokularem Entzug‘ bei dem ein Auge des Tieres geschlossen bleibt. Die Daten wurden von ihren Kolleg:innen an der Brandeis University, Waltham, USA (Labor von Gina Turrigiano) aufgezeichnet. "Wir fanden heraus, dass verschiedene Aspekte der Netzwerkaktivität durch die Unterbrechung des visuellen Inputs beeinflusst werden. Zusätzlich zu den Feuerungsraten einzelner Neuronen nehmen auch die Korrelationen zwischen den Neuronenpaaren nach einigen Tagen gestörter visueller Eingabe ab. Trotz anhaltendem Entzug der visuellen Eindrücke kehrten die Korrelationen dann wieder auf den Ausgangswert zurück", sagt Kris Wu, Erstautor der Studie.
Das Team baute daraufhin ein computergestütztes Modell, bestehend aus einem Schaltkreis (neuronalen Netz) aus erregenden und hemmenden Neuronen und stattete es mit den beiden Arten von Mechanismen (hebbisch und homöostatisch) aus. Sie trainierten zunächst das Netzwerk mit strukturiertem Input, wie z.B. beim normalen Sehen bevor sie das experimentelle Paradigma des monokularen Entzugs nachahmten. "Bemerkenswerterweise stellten wir fest, dass zwei verschiedene homöostatische Mechanismen eine unterschiedliche Rolle bei der Wiederherstellung unterschiedlicher Aspekte der Netzwerkaktivität spielen. Die Anpassung der Stärke aller Synapsen eines Neurons, das so genannte „synaptische Scaling“, ist notwendig, um die Korrelationen zwischen Neuronenpaaren wiederherzustellen. Im Gegensatz dazu ist die Erhöhung der Erregbarkeit einzelner Neuronen notwendig, um dem verringerten Input aus dem Auge entgegenzuwirken und die Feuerungsraten einzelner Neuronen wiederherzustellen", erklärt Gjorgjieva.
"Diese Arbeit zeigt, dass unsere Gehirne unglaublich plastisch sind. Sie können verschiedenen externen Störungen entgegenzuwirken, indem sie eine Reihe von Mechanismen zur Wiederherstellung der Funktion aktivieren. Darüber hinaus scheinen diese Mechanismen bei der Wiederherstellung verschiedener Aspekte der Sehfunktion eine einzigartige Rolle zu spielen", so Gjorgjieva abschließend.
Englischer Text: I. Epstein, MPI für Hirnforschung. Deutsch: C. Duppé, Bernstein Netzwerk