Neuronale Netzwerke für Überlebensinstinkte

Forschungsbericht (importiert) 2024 - Max-Planck-Institut für Hirnforschung

Autoren
Vanessa Stempel
Abteilungen
Forschungsgruppe „Neuronale Schaltkreise für Instinktives Verhalten“
Zusammenfassung
Instinktverhalten sind angeborene Verhaltensweisen, die für das Überleben von Tieren essentiell sind, und die sie ohne oder nur mit sehr wenig Vorerfahrung ausführen können. Bei Wirbeltieren werden sie von Schaltkreisen im Gehirn gesteuert, die im Laufe der Evolution weitgehend unverändert geblieben sind und stammesgeschichtlich bis zu den frühesten Wirbeltiervorfahren zurückreichen. Das Ziel unserer Forschung ist es, herauszufinden, wie diese Verhaltenssteuerung auf der Ebene der Nervenzellen umgesetzt wird.

Einleitung

Fortpflanzung, Jagd und Verteidigung sind typische Beispiele für Instinktverhalten. Diese haben sich im gesamten Tierreich entwickelt, um das Überleben eines Individuums und seiner Nachkommen zu sichern, ohne dass es dafür Lernprozesse braucht. In den letzten Jahren haben Forschende herausgefunden, dass Instinktverhalten nicht nur starre, sich wiederholende Handlungsabläufe sind, sondern im Gegenteil sehr flexibel sein können. Diese Flexibilität ermöglicht es Tieren, sowohl Auswahl als auch Ausführung ihrer Handlungen an die jeweilige Situation anzupassen. So wird zum Beispiel ein Tier, das gerade Nachkommen pflegt, nicht vor einem Angreifer wegrennen, sondern die Nachkommen verteidigen und den Angreifer vielleicht sogar attackieren.

Um genau zu verstehen, wie Instinktverhalten ausgeführt und flexibel an aktuelle Bedürfnisse angepasst werden, erforschen wir die verantwortlichen Nervenzellen bzw. ihre Schaltkreise. Dabei legen wir ein besonderes Augenmerk auf die Synapsen – Verbindungen zwischen Nervenzellen – und zellulären Prozesse.

Ein neuronaler Schaltkreis steuert Instinktverhalten

In unserer Forschungsgruppe “Neuronale Schaltkreise für Instinktverhalten” untersuchen wir, wie das Verhalten eines Tieres von seiner Physiologie und dem Lebensraum geprägt wird. Insbesondere erforschen wir die Schaltkreise von Nervenzellen im „periaquäduktalen Grau“ (PAG). Diese Hirnstammregion steuert und reguliert die Instinktverhalten als Schnittstelle zwischen dem Vorderhirn und Bereichen im Hinterhirn und Rückenmark. Als „zentrale Mustergeneratoren“ erzeugen sie rhythmische Muskelkontraktionen und damit Bewegungen. Das PAG ist somit als zentraler neuronaler Schaltkreis maßgeblich an der Zusammenführung der sensorischen und zustandsabhängigen Informationen sowie an der Auslösung und Ausführung von Instinktverhalten beteiligt, wie zum Beispiel Verteidigung, Aggression, Jagd, Lautäußerungen oder Fortpflanzungs- und mütterlichem Verhalten.

Das PAG kann in vier Bereiche unterteilt werden. Da sich die verschiedenen Verhaltensweisen grob auf diese Bereiche abbilden lassen, eignet sich diese Hirnregion besonders gut für eine Schaltkreisanalyse. Innerhalb eines definierten Bereichs innerhalb des PAG löst die Aktivierung von Neuronen vollständige Verhaltensprogramme mit sehr kurzen Reaktionszeiten aus, wie z. B. „Flucht“, im Gegensatz zu einfachen Verhaltenweisen wie „Laufen“ oder „Stopp“. Dies deutet darauf hin, dass diese Hirnregion eine wichtige Position in der Verhaltenssteuerung einnimmt.

Hochauflösende Aufzeichnungen liefern neuronale Grundlagen

Trotz der Kenntnis dieser entscheidenden Rolle bei der Entstehung von Instinktverhalten weiß man nur sehr wenig über die synaptischen und zellulären Eigenschaften der unterschiedlichen Nervenzelltypen des PAG, und welche Aktivitätsmuster sie in sich frei bewegenden Tieren haben. Um das zu untersuchen, arbeiten wir mit Nagetieren. Sie sind echte Überlebenskünstler, und ihr Gehirn ähnelt dem des Menschen.

Modernste Techniken der Systemneurowissenschaften erlauben es uns, die Aktivität von mehreren Hundert Hirnzellen sowie hochauflösenden Verhaltensaufzeichnungen gleichzeitig aufzunehmen. Indem wir die Funktion der Hirnzellen während verschiedener Instinktverhalten untersuchten, konnten wir zeigen, dass hemmende Neuronen im PAG durchgehend aktiv sind. Damit lieferten wir eine neuronale Grundlage für eine seit langem vermutete Schwelle bei der Initiierung von Instinktverhalten, die bereits vor Jahrzenten auf der Grundlage von Verhaltensbeobachtungen postuliert wurde.

Mit Hilfe einer Messmethode der Elektrophysiologie (der sogenannten ‘Patch-Clamp-Technik’), können wir die elektrische Aktivität einzelner Hirnzellen im Detail - bis hin zu Strömen durch einzelne Ionenkanäle - in der Zellmembran studieren, um die molekulare Grundlage dieser Hemmung im PAG aufzuklären. Unsere Forschungsergebnisse werfen auch weitere Fragen auf, zum Beispiel, wie sich externe und interne Einflüsse (wie Hormone oder Stress) auf diese Hemmschwelle auswirken. Da auch Veränderungen im menschlichen PAG, wie zum Beispiel bei Angststörungen, die Hemmschwelle beeinträchtigen, könnten unsere Ergebnisse langfristig auch für den Menschen relevant sein.

Literaturhinweise

Stempel, A.V.; Evans, D.A.; Pavón Arocas, O.; Claudi, F.; Lenzi S.C.; Kutsarova, E.; Margrie T.W.; Branco T.
Tonically active GABAergic neurons in the dorsal periaqueductal gray control instinctive escape in mice.
Current Biology 34,3031–3039 (2024)
Stempel, A.V.
A conserved brainstem region for instinctive behaviour control: the vertebrate periaqueductal gray.
Current Opinion in Neurobiology 86:102878 (2024)
Zur Redakteursansicht