Bewusste Wahrnehmung als dynamischer und plastischer Prozess

Forschungsbericht (importiert) 2010 - Max-Planck-Institut für Hirnforschung

Autoren
Melloni, Lucia; Schwiedrzik, Caspar M.
Abteilungen
Neurophysiologie (Singer)
Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt am Main
Zusammenfassung
Welche Faktoren bestimmen, ob ein Reiz bewusst wahrgenommen oder unbewusst verarbeitet wird? Am MPI für Hirnforschung wird untersucht, wie sich bestehendes Wissen auf die Wahrnehmung und auf die der Wahrnehmung zugrunde liegenden neuronalen Prozesse auswirkt. Ferner wird untersucht, ob bewusste Wahrnehmung erlernbar ist. Die Ergebnisse zeigen, dass bewusste Wahrnehmung nicht nur davon abhängt, wie viel Information ein Reiz liefert. Vielmehr ist sie das Ergebnis eines plastischen und integrativen Prozesses, im Zuge dessen aktuell eingehende Information mit zuvor erworbenem Wissen interagiert.

Die Frage, wie aus der Aktivität von Neuronen bewusste Wahrnehmung entsteht, ist eines der großen Rätsel der Neurowissenschaften. Wir haben den Eindruck, dass wir alles, was sich im uns umgebenden Raum befindet, klar wahrnehmen, doch der Eindruck täuscht. Man weiß inzwischen, dass ein Großteil der Information, die durch unsere Sinnesorgane aufgenommen wird, verarbeitet wird, ohne dass wir uns ihrer bewusst werden. Was den Unterschied zwischen bewusster und unbewusster Wahrnehmung ausmacht, konnte bislang nicht abschließend geklärt werden. Fest steht, dass starke Reize das Bewusstsein normalerweise stets erreichen. Schwächere Reize werden hingegen häufig nur dann wahrgenommen, wenn ihnen aktiv Aufmerksamkeit geschenkt wird. In den hier vorgestellten Studien wird der Frage nachgegangen, ob es neben den Faktoren Intensität und Aufmerksamkeit noch andere Faktoren gibt, die bestimmen, ob ein Reiz bewusst wahrgenommen oder unbewusst verarbeitet wird. Insbesondere wird untersucht, wie sich eine vorherige Erfahrung auf die subjektive Wahrnehmung auswirkt und welche neuronalen Prozesse und Schaltkreise dem zugrunde liegen.

Unsere Wahrnehmung ist in den seltensten Fällen allein durch die Information, die ein Reiz trägt, bestimmt. Vielmehr wird die gerade eingehende Information mit bereits bestehenden Informationen integriert. So ist es zum Beispiel einfacher, ein Tier in seiner natürlichen Umgebung trotz Tarnung zu erkennen, wenn man weiß, welches Tier man sucht. Hier wird die bereits vorhandene Information über das Tier genutzt, um eine Vorhersage zu machen und so die Suche zu beschleunigen. In der ersten hier vorgestellten Studie wird untersucht, wie Vorhersagbarkeit mit der Stärke eines Reizes interagiert und wie dies zur bewussten Wahrnehmung des Reizes führt [1]. Dazu wurden zunächst visuelle Reize mittels Rauschens unkenntlich gemacht. Durch schrittweise Reduktion des Rauschanteils wird der Reiz langsam sichtbarer, bis er schließlich klar erkennbar ist. Nach jedem Schritt gibt die Versuchsperson an, ob sie den Reiz gesehen hat. Anschließend wird der Rauschanteil erneut schrittweise erhöht. Hat die Versuchsperson den Stimulus einmal erkannt, so erlaubt dies ihr, den Stimulus in der Folge trotz höheren Rauschanteils zu sehen.

Mittels Elektroenzephalographie kann man nun die neuronalen Prozesse vergleichen, die gesehenen von nicht gesehenen Reizen unterscheiden. Auf diese Weise lässt sich der Effekt erfassen, den die zwischenzeitlich klare Erkennbarkeit auf die neuronalen Prozesse hat, die der bewussten Wahrnehmung zugrunde liegen: In der Phase, in der die Versuchsperson den Reiz noch nicht klar wahrgenommen hat, die bewusste Wahrnehmung also nur durch die im Reiz selbst vorhandene Information bestimmt wird, finden sich die ersten Unterschiede in den neuronalen Prozessen zwischen gesehenen und nicht gesehenen Durchgängen etwa 300 Millisekunden (ms) nach der Darbietung des Stimulus. Hingegen findet sich diese Differenzierung schon bei 200 ms, wenn die Versuchsperson den Reiz vorher schon einmal klar erkannt hat und infolgedessen voraussagen kann, wie der Stimulus aussieht. Dies zeigt, dass vorherige Erfahrung einen starken Einfluss darauf hat, ob wir einen Stimulus bewusst wahrnehmen. Zudem deutet die zeitliche Verschiebung der neuronalen Korrelate der bewussten Wahrnehmung von 300 ms ohne Vorhersage zu 200 ms mit Vorhersage darauf hin, dass die Prozesse, die der bewussten Wahrnehmung zugrunde liegen, keine feste zeitliche Beziehung zum Reiz haben. Sie hängen vielmehr  davon ab, wie schnell aktuelle und bereits bestehende Informationen konvergieren. Dies bedeutet, dass die Prozesse, die zur bewussten Wahrnehmung führen, wesentlich flexibler sind als bisher angenommen (Abb. 1).

 

Die vorangegangenen Ergebnisse zeigen, dass eine kurz zuvor gemachte Erfahrung die aktuelle Wahrnehmung stark beeinflussen kann. In den folgenden Forschungsarbeiten wird untersucht, ob Wahrnehmung auch durch langfristiges, systematisches Üben beeinflusst werden kann [2]. Es ist inzwischen etabliert, dass die Verarbeitung von Reizen in der Hirnrinde auch noch im Erwachsenenalter hochgradig plastisch ist. So können Versuchspersonen trainiert werden, extrem kleine Unterschiede zwischen Stimuli zu unterscheiden. Allerdings ist bisher nicht untersucht worden, ob sich ein solches Training auch auf die subjektive Wahrnehmung der Reize auswirkt oder ob die Verbesserungen in der Unterscheidbarkeit der Reize allein auf unbewusste Verarbeitungsprozesse zurückführbar sind. Diese Frage ist auch klinisch relevant: So können manche Schlaganfallpatienten, die in Folge einer Schädigung der Sehrinde in einem Teil Ihres Gesichtsfeldes erblindet sind, Reize unterscheiden, die in den erblindeten Teil des Gesichtsfelds fallen. Allerdings geben diese Patienten an, dass sie die Reize nicht bewusst wahrnehmen. Rehabilitationsversuche haben bislang ergeben, dass durch gezieltes Üben die Fähigkeit verbessert werden kann, die in das erblindete Gesichtsfeld fallenden Reize zu verarbeiten, und dies in seltenen Fällen auch mit zunehmender subjektiver Wahrnehmung der Reize einhergeht [3]. Dies deutet darauf hin, dass bewusste Wahrnehmungen ähnlich wie andere kognitive Fähigkeiten durch gezieltes Training veränderbar sind. In gesunden Versuchspersonen kann dieser Frage nachgegangen werden, wenn gut erkennbare Reize durch schnell aufeinander folgende Darbietung in ihrer Sichtbarkeit eingeschränkt werden („Maskierung“). So können Bedingungen hergestellt werden, in denen die Versuchsperson die dargebotenen Zielreize nicht auseinanderhalten kann. Gleichzeitig geben die Versuchspersonen an, der Reiz sei für sie unsichtbar. Im Zuge eines mehrtägigen Trainings steigt die Fähigkeit, die Zielreize zu unterscheiden. Die Frage ist nun, ob das Training auch einen Zuwachs der subjektiven Wahrnehmung bedingt. Tatsächlich geben die Versuchspersonen nach dem Training an, die Zielreize klarer zu erkennen (Abb. 2).

 

Dies zeigt, dass bewusste Wahrnehmung durch gezieltes Training verbessert werden kann, sogar wenn der Stimulus initial subjektiv unsichtbar ist. Hier zeigt sich erneut, wie flexibel die neuronalen Prozesse sind, die der bewussten Wahrnehmung zugrunde liegen. Diese Ergebnisse eröffnen nicht nur ein neues Forschungsgebiet zur Plastizität bewusster Wahrnehmung, sondern liefern auch wichtige Informationen für Rehabilitationsprogramme, deren Ziel darin besteht, die Plastizität des Gehirns auszunutzen, um beispielsweise Wahrnehmungsdefizite nach Hirnläsionen zu mildern.

Zusammenfassend zeigen die hier vorgestellten Studien, dass die Prozesse, die der bewussten Wahrnehmung zugrunde liegen, flexibel und sogar plastisch sind. Zum einen können Erfahrungen, die kurz vor dem aktuellen Reiz gemacht wurden, die Wahrnehmung und ihre neuronalen Korrelate verändern [1]. Zum anderen kann langfristiges Training dazu führen, dass Reize, die unter normalen Umständen nicht bewusst wahrgenommen werden, Zugang zu unserem subjektiven Empfinden finden [2]. Dies deutet darauf hin, dass die bewusste Wahrnehmung ein Prozess ist, der nicht in Isolation untersucht werden sollte, sondern in seinem komplexen Zusammenspiel mit anderen kognitiven Prozessen, die in ihrer Gesamtheit bedingen, was wir wahrnehmen. Derzeit laufende Studien werden Aufschluss darüber geben, wie diese Interaktionen auf neuronaler Ebene implementiert sind und welche Veränderungen den Trainingseffekten auf die bewusste Wahrnehmung zugrunde liegen.

1.
L. Melloni, C. M. Schwiedrzik, N. Müller, E. Rodriguez, W. Singer:
Expectations change the signatures and timing of electrophysiological correlates of perceptual awareness.
Journal of Neuroscience 31 (4), 1386-1396 (2010).
2.
C. M. Schwiedrzik, W. Singer, L. Melloni:
Sensitivity and perceptual awareness increase with practice in metacontrast masking.
Journal of Vision 9(10), 1-18 (2009).
3.
A. Sahraie, C. T. Trevethan, M. J. MacLeod, A. D. Murray, J. A. Olson, L. Weiskrantz:
Increased sensitivity after repeated stimulation of residual spatial channels in blindsight.
Proceedings of the National Academy of Science USA 103(40), 14971-14976 (2006).
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