Neuronale Schaltkreise für Überlebensinstinkte

Vanessa Stempel erhält ERC Starting Grant zur Erforschung von Gehirnschaltkreisen, die instinktives Verhalten steuern

5. September 2024

Instinktive Verhaltensweisen wie Verteidigung, Nahrungssuche, Aggression und Brutpflege haben sich im Tierreich entwickelt, um das Überleben zu sichern – ganz ohne vorheriges Lernen. Doch welche Mechanismen im Gehirn dafür verantwortlich sind, dass dieses überlebenswichtige Verhalten an verschiedene Situationen angepasst werden kann, ist noch nicht vollständig erforscht. Vanessa Stempel, Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, und ihr Team wollen diese Frage im Rahmen des Projekts „CoreInstincts“ beantworten. Zur Förderung ihrer Arbeit hat der Europäische Forschungsrat (ERC) Stempel nun einen Starting Grant in Höhe von 1,5 Millionen Euro für die nächsten fünf Jahre bewilligt.

Instinktive Verhaltensweisen – wie Jagen, Flucht oder Paarung – sind essentielle, angeborene Überlebensstrategien, die Tiere ohne oder nur mit sehr wenig Vorerfahrung ausführen können. Bei Wirbeltieren werden diese Verhaltensweisen von neuronalen Schaltkreisen gesteuert, die im Laufe der Evolution über verschiedene Arten hinweg weitgehend unverändert geblieben sind. In den letzten Jahren haben Forschende herausgefunden, dass instinktives Verhalten nicht nur starre, sich wiederholende Handlungsabläufe umfasst, sondern auch flexibel sein kann. Diese Flexibilität ermöglicht es Tieren, sowohl die Auswahl als auch die Ausführung ihrer Handlungen situativ anzupassen. Um zu verstehen, wie diese Verhaltensflexibilität funktioniert, ist die Untersuchung spezifischer neuronaler Schaltkreise entscheidend, wobei besonderes Augenmerk auf Synapsen – die Verbindungen zwischen Nervenzellen – und zelluläre Prozesse gelegt wird.

Vanessa Stempel und ihr Team am Max-Planck-Institut für Hirnforschung konzentrieren sich auf eine Hirnregion namens periaquäduktales Grau (PAG). Diese Region, die bei allen Wirbeltieren vorkommt, spielt eine zentrale Rolle bei der Auslösung fast aller instinktiven Verhaltensweisen. Mit dem ERC Starting Grant werden die Forschenden die Entstehung instinktiver Verhaltensweisen bei der Hausmaus, einem Überlebensspezialisten, erforschen. „Wir freuen uns besonders darauf, die neuronalen Schaltkreise zu untersuchen, die instinktives Verhalten steuern – mit einem besonderen Fokus auf das weibliche Gehirn“, sagt Stempel. „Unser Ziel ist es herauszufinden, wie natürliche neuromodulatorische Veränderungen während des Östrogenzyklus die zellulären und netzwerkbasierten Eigenschaften des PAG und letztlich das Verhalten der Tiere beeinflussen.“ Dazu wird das Team eine Kombination aus molekularen, zellulären und schaltkreisbasierten Methoden einsetzen, darunter die Aufzeichnung neuronaler Aktivität bei freilaufenden Mäusen.

Über die Wissenschaftlerin

Vanessa Stempel absolvierte ihren Master of Science in Biomedizin am University College London (UCL) und promovierte an der Freien Universität Berlin und der Charité Universitätsmedizin Berlin. Als Postdoktorandin arbeitete sie am Sainsbury Wellcome Centre des UCL und am MRC Laboratory of Molecular Biology in Großbritannien. Seit 2021 leitet sie die Forschungsgruppe „Instinctive Behaviour Circuits“ am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt darauf, zu verstehen, wie evolutionär konservierte Schaltkreise im Mittelhirn von Nagetieren zur Flexibilität instinktiver Verhaltensweisen beitragen, indem sie die zugrunde liegenden synaptischen und zellulären Mechanismen untersucht.

Über den ERC

Die Starting Grants des Europäischen Forschungsrats (ERC) unterstützen wegweisende Forschung in verschiedenen Disziplinen und bieten Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern die Möglichkeit, ihre eigenen Projekte zu starten, Teams aufzubauen und ihre vielversprechendsten Ideen umzusetzen. Die Fördermittel – insgesamt fast 780 Millionen Euro – sind Teil des EU-Programms Horizon Europe. Auf die jüngste Ausschreibung gingen 3.474 Anträge ein, von denen 14,2 % eine Förderung erhielten. In diesem Jahr wurden 44 % der Starting Grants an Forscherinnen vergeben. Stempel gehört zu den sechzehn Starting Grant-Empfängerinnen und -Empfängern der Max-Planck-Gesellschaft im Jahr 2024.
 

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht